Sonntag, 8. Februar 2015

Wahnsinnig geträumt



Rauschend streicht der Herbstwind durch die sich beständig auf und nieder beugenden Felder.
Unter der Diktion des Windes wogt in einem lethargischen, verschlafenen Rythmus und in braunrotgelbverströmten Farben miteinander verwoben ein Meer von Baumwipfeln des die Felder umbrandenden Waldes.
An diesem Tag wirkt die Präsenz der Natur eigentümlich eindringlicher als sonst. Der Eindruck beschleicht mich, ich hätte auf meinem Weg querfeldein, den Wald ansteuernd, allmählich einen eigenen Raum und eine fremde Zeit verfließend betreten.
Der Wald nähert sich Schritt für Schritt meinem Mich, welches zunehmend in Ich-Vergessenheit und Passivität gerät. Mein Blick wechselt zunächst noch umherschweifend von meinen Schuhspitzen, den sich seitlich von mir ausbreitenden Feldern bis hin zu dem an Größe gewinnenden, gegenüberliegenden Wald. Zunehmend jedoch löst sich das Geräusch meiner Tritte in der Luft auf, das Rascheln der Felder verschwindet hinter dem Horizont; und mein Blick haftet immer beflissener und fester, als wäre er eingefangen worden, gerade aus gerichtet an dem, von einem melancholischen, pulsierenden Himmel umwölbten, frühabendlichen Herbstwald.
Wenn man aufmerksam genug hinsieht, dann bemerkt man, wie sich unscheinbar, schleichend, in gewissen verschwommenen Zeitabständen, Blatt um Blatt von ihren Ästen, alswie ein Schimmer von Existenz um Existenz von ihren Essenzen losstößt und geräuschlos zu Boden gleiten lässt.
Ich spüre wie der Wind meine Fingerspitzen und mein Genick entlangstreicht.
Zunächst unnahbar und verschleiert, doch nun zunehmend deutlich beginnt mir der Wind verblassende Wortfetzen zuzuflüstern. Unvorbereitet und erschrocken über diese unmögliche Stimme im Wind verlangsame ich meinen Gang, verliere meinen Blick in der Suche nach einer möglichen Stimmquelle, stehe schließlich verhalten da.
Ich bin alleine, und doch fühle ich in brechender Intensität, wie sich mir ein uralter Sinn brennend auferlegt.

>> ...Verwerfe nicht deine träumende Anschauung...<< ...

...so streicht es mir urplötzlich, urflüsternd durch den Sinn. So inspiriert es vom einen in den anderen Moment reißend meine unbeholfene, stockend-atmende Seele. Doch so hilflos stehe ich noch da, >>Ich<< in >>Ichs<< denkend, Weltlichkeit subsumierend, vorgeformte Wirklichkeiten ableitend und in Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften messend. So determiniert von >>Zeit<< und >>Wahrheit<<. Meine eigene Befangenheit versperrt sich in verzeitigten Erscheinungen, weltlich positivierten Wirklichkeiten, deren Ursprung und Eigentümlichkeit in der Geistlosigkeit der Welt liegt. Wir verschieben in einem endlosen Teufelskreis Bedeutungszuschreibungen auf der weltlichen Oberfläche der Erscheinungen, deren Gesetzmäßigkeit außerhalb von ihr liegt. Der Mensch scheint sich letztlich immer aufs Neue lediglich seine materielle Weltlichkeit nahezulegen. Sich als tiefere, geistige Existenz begreift und erlebt er nur in Ausnahmefällen oder zufälligen Träumen.

Ich fühle diesen Gedanken nur, begreife ihn aber weniger als Abbild meines von der Welt distanzierten, erkennenden Ichs, denn als Zenit der Verschmelzung meines unentwickelten, jedoch sehnsüchtigen Ichs mit jener schein-entwickelten, ahnungslosen Menschheit. Ich erkenne nur unausgesprochene Unkenntnis.

Ich setze vorsichtig wieder einen Fuß vor den nächsten. Der Wind fängt heftiger zu rauschen an und knistert in einem bebenden, elektrisierenden Geheule.

>>Höre<< ..

.. so schlägt erneut die unmögliche Stimme verrissen in meinem unmöglichen Herzen ein, alle Wände durchbrechend. Mir, der ich mich nur Weltlichkeit zu hören können meine, zwängt sich eine Frage auf: Was höre ich schon außer unentfliehbarer, sinnvermessender Weltlichkeit und Gesellschaftlichkeit? Und während ich mich dies also frage, wird da meine vertrocknete und brache Ahnungslosigkeit hemmungslos über- und umschwemmt in einer geistigen Überflutung, meine in stumpfester Mutlosigkeit zu Staub zerfallene Ahnungslosigkeit als Ahnung neu erträumt, neu erdacht.
Und doch bleibe ich der, der ich war: Als der, der immer nur Zeit fühlte und in dieser immer nur als Unwahrheit verfangen befangen wandelte...
...darum hörte ich auch nie was Verstehen zu können ich mich so lange anzunähern meinte.

>>Sehe<< ...

...so dringt es durch mein Ohr. Nicht aber Sprache dringt in mein Herz. Alleine der Blick des Windes bedingt diese unendliche Integrität des Moments, mir den Inhalt in die Seele stechend.
All die Farben, Kontraste, Realitätsverrisse um mich herum scheinen zu zerrinnen und in- bzw. auseinanderzufließen. Oder ist es mein Körper, der schmilzt? Meine Augen beschlagen sich und versuchen durch benommenes, träges Blinzeln der Ergrauung der Welt umsonst Vorschub zu leisten. 

>>Taste<< ...

...und während mir dieses Wort durch Kopf und Herz strömt, stellt sich mir zum ersten Mal die Möglichkeit in den Sinn, dass die Gegenstände, die ich ertaste, sich im selben Moment des Ertastens in Scheinbarkeit und sinnlicher Endgültigkeit aufspalten. Obwohl der vermeintlich Offenbarste und Endgültigste aller Sinne, so ist der Tastsinn doch eigentlich die größte Mystifikation von allen. Ich schmecke, trage, berühre... und ertaste dabei doch immer nur eine Oberflächenwirkung. Eine Kette von widersprüchlichen, verrätselten Reaktionen kulminieren in einem ertastbaren endlichen Schein und ich - manipulierter, versinnlichter Mensch - bezeichne ausschließlich die allerletzte Wirkung als Wahrheit. Geistig verrohe ich in dieser dogmatisch als berechen- und bestimmbar erklärten Welt der Oberflächenerscheinungen. In der Propaganda der reduktionistischen Naturwissenschaften spielten und spielen Fragen nach dem Zusammenhang von Wesen und Erscheinung nie eine Rolle. Die Naturwissenschaften die ewig tasten, doch kein einziges Mal gefühlt oder auch nur einmal annähernd verstanden hätten. Umso mehr ich vor der Welt in die Welt hinein flüchte, umso tiefer versinke ich in verzerrter Oberflächlichkeit.


Ich betrete nun den Wald. Blätter zu meinen Füßen. Erst die Felder, nun die mich umgebenden Bäume mit den umhergleitenden, dem Boden entgegenstreichenden, -wiegenden Blättern ... vorallem aber die Stimme des Windes ... sie vermitteln mir ein Bild von Prozesshaftigkeit und Unendlichkeit. Sie mahnen und ermutigen mich keine Angst vor dem Träumen zu haben ... das Paradoxe in mir zuzulassen, mehr von meinem unwahren wahren Ich zu leben ... die Wirkung und das Ausmaß des Unverstandenen in ihrer Blüte passieren zu lassen ... dadurch mehr an mir selbst zu leiden.
Und ich frage mich im selben Moment, in erneuerter Übereinkunft mit mir selbst: Was habe ich zu verlieren, sollte ich versuchen, ein wenig wahrhafter, also in träumender Anschauung, zu leben? Dieses Träumen ist mir allerdings kein Bewusstsein, es ist mehr eine bruchstückhafte, hauchende Ahnung von Mehr als dem mir bewusst sein kann, einer entfernten, verschleierten Über-Wirklichkeit.
Ich gebe mich nicht der Illusion hin, Wahrheit in ihrer Vollständigkeit finden zu können ... aber ich könnte zumindest anfangen diese sich ständig erneut selbst überschreibende, selbst überwältigende und überfordernde Weltlichkeit als das zu benennen was sie ist: Unwahr. Und ich könnte als bewusstes Unwahres weitere Funken von Wahrheit suchen und einsammeln.

Mein Sein füllt sich wieder mit Bewusstsein. Bewusstsein über mich und diese Welt. Doch die Überzeugung neben Weltlichkeit auch Wahrheit zu sein, die ich vor kurzem noch so wohlfeil vertrat, erfuhr eine empfindliche Erschütterung. Was bedeutet Bewusstsein in diesem Zusammenhang also mehr, als der Eindruck der Existenz einer Innerlichkeit und einer Äußerlichkeit, deren Zusammenhang verschleiert und mystifiziert wurde. Bewusstsein, in welchem die innere Wirklichkeit durch äußere, gesellschaftlich sanktionierte Erscheinungen überdeterminiert wird, und nicht mehr auf sich selbst gerichtet sein kann, ist notwendig verkehrtes Bewusstsein. Mir widerstrebt es, doch gerade aufgrund dieser Feststellung muss ich einsehen, unweigerlich selbst auch Produkt meiner Umgebung, dieser Welt zu sein. Ich glaubte so viel zu wissen, doch was war davon wirklich Erkenntnis? So ging doch dieser Schein-Erkenntnis immer ein notwendig verkehrtes Bewusstsein voraus.
So wohlfeil zog ich immerzu den Schluss.
Nun aber zieht er mich.
Und aus dem mich ziehenden Schluss ziehe ich nun einen neuen Schluss:
Den der Erkenntnis einer träumenden, sehnsüchtigen Ahnung in mir, die immer nur ausgerichtet auf ein wahres Leben war und ist. Eine Erkenntnis die nach innen, und nicht mehr nach außen gerichtet und in Zusammenhang mit meiner subjektiven Anschauung gesetzt ist. Doch diese Ahnung ist ein kaum auszumachender Impuls tief in mir, und es bedarf viel aufzuleiden, um ihn herausschlagen zu lassen.

Es bedarf viel des wahnsinnigen, einsamen Träumens.