Sonntag, 2. März 2014

Die Leere oder der Blick der Sonne als das Einzigwirkliche, das zu mir gehört

Das könnte sein: Myriaden von Partikeln, die >>Ich<< ausmachen, und zugleich scheint es, als wäre >>Ich<< ein Nichts, die Hypostasierung einer reinen Form, irgendetwas wie eine geträumte Substanz, etwas, das eine geträumte Identität bezeichnet, eine Chiffre für etwas, das zu dechiffrieren mehr Mühe macht als die geheimste Order. (…) Ich meine, dass es da viele >>Ich<< gibt und über >>Ich<< keine Einigung – als sollte es keine Einigung geben über den Menschen, sondern nur immer neue Entwürfe.“ - Ingeborg Bachmann


Eines Weltenabends strebten die raumfüllenden und zeiterzeugenden Blicke der Sonne scharf umher. Und sie träumte vor sich hin, wehmütige Augen durchdrangen stille Welten, erschlossen die schleichende Finsternis zwischen ihnen, fühlten jede sternenhafte Unebenheit in ihr. Und die löchrigen, schwimmenden Wolken einer auffällig leisen, blassen, müden Welt tränkte sie an jenem Abend mit ihren durchdringenden, glühenden Blicken besonders rötlich.


Unerwartet in den raumfüllenden Blick sich hineinsetzend entspringt in jener leisen Welt eines unscheinbaren Momentes neues Sein. Menschliches Sein. Es öffnet die Augen und ist sinn- zeit- raumüberflutend -einnehmend, -durchdringend. Allmählich aus dem Staub sich erhebend manifestiert sich jenes Sein zunehmend und verwirklicht sich durch Schritt um Schritt, Fuß vor Fuß. Und da sich im Geiste, in den Gedanken jenes Seins alles Wahrnehmbare wiederspiegelt, erhält auch die Wirklichkeit neues, abstraktes Leben in der Sprache. Alles wird neu - was da schon immer still da lag wird zum messbaren, erdenkbaren „Raum“, was da schon immer verging wird sukzessive, alles hinter sich lassende „Zeit“. Wirklichkeit wird auf einmal zur formbaren, sprechbaren Materie, obwohl ihre tiefste und durchdringendste Eigenschaft doch das Formlose ist.


Und wie der eine Fuß vor den anderen, so schreitet die eine Sekunde vor die andere, der eine Raum vor den anderen.


Und alles verläuft und zerrinnt in immer neuen Momenten.


Und in immer neuen Momenten schmiegt es sich an den Menschen und seufzt ihm unermüdlich und betrübt ins Ohr, ein flüsternder Schleier, eine knisternde Luft - der zerronnene Blick der Sonne, ihn besorgt betrachtend und dabei so viel mehr, als er sie, atmend.


Unbedacht, unbeachtet der besorgten Beobachtung erfindet dieses neue, sprechende Sein da eines Moments in berauschtem Wahn den undurchdringbarsten, Realität entferntesten aller Ausdrücke: „Ich“. Obwohl von Anfang an das unnahbarste aller Wörter, wird es alle Ambivalenz durchströmend zum gebräuchlichsten, sehnsüchtigsten Ausdruck. Das „Ich“ als Droge, zum notwendigsten denn einzig zugänglichen Spiegel des verlorenen Ichs. „Ich“, „Ich“, „Ich“, immer tiefer spricht es sich in wirklichkeitsentfernte Scheinwelten. Und von einem auf den anderen zerrinnenden Moment errichtet sich jene Scheinwelt durch die Hand des „Ichs“ zu wirklichkeitsnormierender Fassade, zur Unterdrückung des eigentlichen, verblassenden Wesens des menschlichen Seins.


Und unaufhaltsam fließen sie weiter ineinander, durcheinander, nacheinander – entleerte, andauernde und doch in sich vergängliche Momente.


Von dem einen auf den anderen ungeahnten Moment aber -völlig gleichgültig ob nun jener Moment gewesen oder seiend oder werdend-, und obwohl kurz zuvor noch wild einen Fuß vor den nächsten setzend, beruhigt dieses neue, alte, jedenfalls verlorene und orientierungslose Ich den Schritt. Denn durchdringend und durchbrechend nimmt es nun in einer leeren und traumlosen Stille, wider aller Sinne, den glühenden Blick der Sonne wahr, vernimmt ihr knisterndes Flüstern und wagt sich nun nicht mehr zu rühren, erstarrt, verliert den Boden unter den Füßen, fällt, lauscht dabei nur noch angestrengt. Und der knisternde Blick keucht, nachdem er dem zuvor besinnungslos Rennenden schon eine lange Strecke hinterher gerannt war, heiser und angestrengt, bäumt sich auf, wird zum bebenden Wind, fasst dem sich nunmehr zusammenkauernd Fürchtenden streng an der Schulter und haucht ihm eindringlich unendliche Gefühle ins Ohr. Verrissen stehen sie sich nun im Geist jenes gegenüber, einerseits Fragmente selbst konstruierter Abbilder, künstlicher Gedanken, andererseits Gefühle einer vom Blick der Sonne eingehauchten höheren Wirklichkeit, die nur in Gefühlen, genauso unendlich und unfassbar wie sie selbst, ihren Kern dem menschlichen Leben zugänglich machen kann.


Sie muss erst erworben werden, die Erkenntnis der Unwissenheit.
Es gibt eine Überwirklichkeit. Es gibt sie, die Blicke der Sonne. Und sie sind unbeeinflussbar und unveränderlich. Und verstehen tut sie nur das Herz.
Demütig senkt sich das Haupt.
Das Nichts rauscht an allen Seiten hinauf, das plumpe Ich hinab.
Der Blick schweift von den Füßen zu den Händen.
Und sich zunehmend mit stockendem Atem betrachtend sinniert jenes nun in der stoischen Feststellung, selbst nur erträumte Substanz zu sein.





„Wieder einmal das bekannte Gefühl: fliegen zu müssen, auf der Brüstung eines Fensters zu stehen (in einem brennenden Haus?) und keinerlei Rettung zu haben, wenn nicht durch plötzliches Fliegen-Können. Dabei die Gewissheit: Es hilft gar nichts, sich auf die Straße zu stürzen, Selbstmord ist Illusion. Das bedeutet: fliegen zu müssen im Vertrauen, dass eben die Leere mich trage, also Sprung ohne Flügel, einfach Sprung in die Nichtigkeit, in ein nie gelebtes Leben, in die Schuld durch Versäumnis, in die Leere als das Einzigwirkliche, was zu mir gehört, was mich tragen kann…“ – Max Frisch